„Was
für eine ungewöhnliche Anrede!“ mag sich jetzt mancher denken. Aber
gibt es bessere Begrüßungsworte als diese, mit denen schon Albert
Einstein im Jahr 1930 seine Ansprache auf der Funkausstellung in Berlin
begann, gibt es also Worte, die besser für diesen Abend geeignet sind,
die aber auch besser zu diesem Abiturjahrgang 2008 passen? Denn noch
seid ihr – die Abiturientinnen und Abiturienten – „Anwesende“,
Mitglieder unserer Schule, bald schon aber „Abwesende“ – Ehemalige.
Vor
einiger Zeit schon habt ihr mich damit beauftragt, heute einen
zusammenfassenden Bericht über das – wie ihr es genannt habt –
„Experiment Kollegstufenjahrgang 2006-2008“ zu geben.
Mir ist
sehr bewusst, dass ich an dieser Stelle ein schweres Erbe antrete und
dass ich mich an meinen Vorgängern und Mitstreitern messen lassen muss,
die aber als Germanisten sicher über einen gewissen „Heimvorteil“ bei
der Erstellung solcher Reden verfügen.
Kurzzeitig zog ich in
Erwägung, das Angebot zweier Kollegen aus den Fakultäten Physik bzw.
Biologie anzunehmen, als „Ghostwriter“ für mich zu arbeiten. Ich
entschied mich aber dann doch dafür, diese Rede selbst zu schreiben. Zu
groß war meine Sorge, andernfalls an dieser Stelle über
Modelleisenbahnen oder Flugzeuge referieren zu müssen.
Jetzt aber zurück zum Thema, verehrte – im obigen Sinne – noch An- und bald schon Abwesende!
Das,
was wir heute hier zum Abschluss bringen, einfach nur ein „Experiment“
zu nennen, ist mir im Grunde viel zu wenig. Umfang und Vorgehensweise
legen eigentlich mehr einen anderen Begriff nahe, der in Industrie und
Wirtschaft schon längst und in der Schule in den letzten Jahren in
zunehmendem Maße Einzug gehalten hat: Solche Großexperimente mit
zunächst unbekanntem Ausgang bezeichnet man heutzutage gerne als
„Projekt“. Mich selbst muss ich in diesem Sinne ganz einfach zum den
Projektleiter ernennen.
Während man umgangssprachlich unter
einem Projekt häufig nur ein „Vorhaben mit Entwurfscharakter“ versteht,
gehören nach DIN 69901 mindestens drei Dinge dazu: Ein Projekt ist
demnach ein Vorhaben, bei dem (1) innerhalb einer definierten
Zeitspanne (2) ein definiertes Ziel erreicht werden soll, und das sich
(3) dadurch auszeichnet, dass es im Wesentlichen einmalig ist.
Die
(1) definierte Zeitspanne, das waren bei uns 3 Jahre Oberstufe, das (2)
definierte Ziel: die allgemeine Hochschulreife. Dass (3) das Vorhaben
für euch einmalig war, das hat sich am Ende herausgestellt.
Zu
einem Projekt gehört aber auch, dass der Weg zum Erreichen des Ziels
zunächst eher unbekannt ist. Nun, was diesen Punkt anbelangt, da haben
wir Lehrkräfte und vielleicht auch Sie, verehrte Eltern, sicher eine
andere Meinung als die Schüler: Uns ist der Weg zum Abitur im Prinzip
eigentlich schon bekannt. Nur leider halten sich halt Schüler nur
selten an die von uns vorgeschlagenen Wege und gehen gerne ihre
eigenen. Und das ist auch gut so, denn sonst würden wir heute Abend nur
lauter „Nachahmungstäter“ aus der Schule entlassen. Von einem
Abiturienten erwarte ich aber etwas anderes, erwarte ich
Eigeninitiative! Dass ihr auch dazu fähig seid, dass habt ihr unter
anderem bei der Organisation dieser Abiturfeier, das habt ihr bei der
Vorbereitung eures Abschlussgottesdienstes gestern Abend bewiesen!
Worum
ging es bei unserem Projekt? Lassen Sie mich zunächst einmal die
Rahmendaten abstecken. Falls ich mich im Folgenden zu sehr der
Sprechweise der Naturwissenschaften bediene, dann verzeihen Sie mir
bitte, aber das ist nun einmal mein Metier. Und durch meinen Vorredner
sind Sie darauf ja auch bestens vorbereitet.
In den letzten
beiden Jahren waren knapp 60 Versuchsleiter, die bei uns auch
Kursleiter genannt werden, tagein, tagaus damit beschäftigt, in 12367
Experimentierstunden (sprich Unterrichtsstunden) 10456 einzelne
Messwerte der 114 Versuchspersonen – also Einzelnoten der Kollegiaten –
zu ermitteln. 2 Projektleiter (das waren wir Kollegstufenbetreuer)
fassten diese Ergebnisse zusammen und erstellten daraus
Zwischenberichte (die so genannten Ausbildungsabschnittszeugnisse),
führten mehr oder weniger sinnvolle Statistiken über ausgefallene
Experimente (d.h. Absenzen), berieten und informierten zudem die
Versuchspersonen über die weiteren auf sie zukommenden Experimente
(sprich Kurse und Prüfungen).
Überwacht wurde das alles vom
Leiter des „Großkonzerns“ Dalberg-Gymnasium Herrn Dr. Bauer und seiner
Stellvertreterin Frau Finster, unterstützt von den Mitarbeitern in
Schulleitung und Sekretariat und zu jeder Tages- und Nachtzeit von
Herrn und Frau Schmidt und ihrem ganzen Mensateam fürsorglich mit einem
umfassenden Angebote von flüssigen und festen Nährstoffen versorgt.
Ihnen
allen, die sich in den letzten Jahren gemeinsam mit uns
Kollegstufenbetreuern um diesen Abiturjahrgang gekümmert haben, danke
ich an dieser Stelle ganz herzlich für die gute Zusammenarbeit!
Besonders möchte ich mich aber bei meinem Kollegen, bei dir lieber
Günter, und bei meinem Vorgänger, lieber Volker, dafür bedanken, dass
ihr mir immer mit Rat und Tat zur Seite gestanden seid. Mein Dank gilt
auch den Jahrgangsstufensprecher für die Zusammenarbeit und die
Unterstützung bei den diversen „Einsammelaktionen“.
Gehen wir nun die einzelnen Phasen des Projekts Abiturjahrgang 2006-2008 der Reihe nach durch.
Die
Planungsphase in der 11. Klasse können wir rasch überspringen. Diese
wurde von den meisten Schülerinnen und Schülern eher gelassen
gemeistert. Allgemeine Informationen wechselten sich mit der konkreten
Planung von Einzelexperimenten – also mit den diversen Stufen der
Kurswahl – ab. So richtig ernst wurde es dann im September 2006, als
mit dem Eintritt in die K12 die eigentliche Entwicklungsphase des
Projekts begann. Wurde einem in den ersten 11 Schuljahren noch alles
fein säuberlich von Klassenleitern und Fachlehrkräften vermittelt, so
war jetzt plötzlich Eigenständigkeit gefragt. Konnte man in den
vergangenen Schuljahren einfach noch in der Masse mitlaufen und kam so
schon irgendwie vom Klassenzimmer zum richtigen Fachraum, so musste man
sich jetzt auf einmal selbst entscheiden: „Stehe ich jetzt als Erster
im Kollegstufenzimmer auf und gelte ab sofort nur noch als Streber oder
warte ich lieber noch ein Weilchen und riskiere, dass ich von einem auf
Pünktlichkeit pochenden Kursleiter eventuell nicht mehr in den Raum
gelassen werde?“ – zugegeben, eine für die weitere
Persönlichkeitsentwicklung wichtige Frage, über die sich lange
philosophieren ließe.
Schon sehr rasch kündigten sich
dramatische Veränderungen an: es zeichnete sich ab, dass der bisherige
Projektleiter ausgetauscht werden sollte! Verständlich, dass dies zu
einigen Unruhen und Unsicherheiten führte.
Am 16. Februar 2007
war es dann so weit: Projektleiter Teschke musste, durfte oder wollte
seinen Posten räumen und konnte in den vorzeitigen Ruhestand gehen –
allerdings anders, als das bei Projektleitern in der freien Wirtschaft
üblich ist – nämlich ohne eine üppige Abfindung.
Es spielt keine
Rolle, warum ausgerechnet ich seine Nachfolge antreten durfte, aber ich
betone ausdrücklich, dass es nur ein Gerücht ist, dass die Entscheidung
deshalb zu meinen Gunsten ausfiel, weil ich vorher schon über 10 Jahre
lang Erfahrung bei der Zähmung der 80 oft sehr störrischen
Schulcomputer gesammelt hatte!
Die auf diesen Wechsel
folgenden Monate zeichneten sich durch einige kleinere Störungen im
allgemeinen Experimentierbetrieb aus. Frischer Wind wehte durch die
Räume des „Labors Kollegstufe“. Gleich in der 1. Vollversammlung sahen
sich die Kollegiatinnen und Kollegiaten dem für sie völlig ungewohnten
Einsatz neuer Medien gegenüber: Computer und – vor allem – Mikrofon,
das gab es vorher nicht! Das war bei den Generalaudienzen des
Projektleiters Teschke auch völlig überflüssig, ist er doch am
Dalberg-Gymnasium nur unter dem Pseudonym „die Stimme“ bekannt.
Fast
schon als Eingriff in die Persönlichkeitsrechte schienen manche
Kollegiaten mein Ansinnen zu empfinden, per E-Mail Kontakt mit ihnen
aufnehmen zu wollen! Sie weigerten sich wehemend, mir ihre
E-Mail-Adresse mitzuteilen und bis heute habe ich diese noch nicht von
allen!
Andere wiederum kamen mit den Neuerungen nur schwer zu
recht: Informationen gab es ab sofort auch auf der Dalberg-Homepage.
Formulare sollten plötzlich aus dem Internet heruntergeladen und – man
höre und staune – am Computer ausgefüllt werden!
Aber ich muss
zugeben, auch ich musste hin und wieder zurück rudern. So zeigte sich
sehr schnell, dass meine angebotenen Sprechstunden für Kollegiaten
völlig überflüssig waren. Nicht etwa, weil es nichts zu besprechen gab,
sondern weil diese Sprechstunden einfach nicht angenommen wurden bzw.
nicht angenommen werden konnten, weil der Terminplan für die
Experimente (also der Stundenplan) zum Teil recht selbstständig
verändert wurde. Im Herbst 2007 musste man dann als Kollegiat das
Zählen bis 3 neu erlernen: Auf den neuen Entschuldigungsformularen war
nämlich ab sofort an 3 Stellen ein Datum einzutragen: 1. das Datum der Unterschrift – das wurde fast nie vergessen. 2.
das Datum der nächsten Schulaufgabe – da haperte es schon bei einigen,
die selbst am Tag vor einer Schulaufgabe nicht sicher darüber Bescheid
wussten, wann denn die nächste Arbeit zu schreiben war. Und zuletzt:
3. das Datum der Erkrankung. Gerade hier waren sehr oft meine
hellseherische Fähigkeiten gefragt und selbst das Lesen im reichlich
vorhandenen Kaffeesatz half nur in den wenigsten Fällen wirklich
weiter. Pure Zeitverschwendung war es, bei den Erkrankten selbst
nachzufragen. Ganz im Gegenteil – Zitat: „Herr Gnandt, können Sie mir
mal sagen, wann ich krank war?“
Aber: die tägliche Bearbeitung
der Entschuldigungen sorgte auch für so manche Erheiterung. Was ist
beispielsweise davon zu halten, dass ein Kollegiat als Grund seiner
Erkrankung „Vergessen“ einträgt. Was wurde hier überhaupt vergessen?
Etwa, warum man krank war oder worin die Erkrankung bestand oder wurde
gar vergessen, dass man überhaupt krank war?
Und wie soll man
es interpretieren, dass sich eine Kollegiatin im Januar dieses Jahres
schon einmal für den 1. August 2008 entschuldigte? Sollte das
vielleicht eine Art Rückversicherung sein, falls es mit dem Abitur doch
nicht so richtig klappen sollte? Wieder ein anderer ist auf dem besten
Weg, direkt nach dem Abitur ins Rentenalter einzutreten: Er verschickt
heute schon E-Mails mit dem Datum 2.6.2080!
Sehr plötzlich – und scheinbar völlig ohne Vorwarnung – kam dann der 25. Januar 2008 auf uns zu: der Tag der Facharbeitsabgabe. Als
sehr klug hat sich die Entscheidung herausgestellt, den Abgabetermin
auf den Nachmittag zu verlegen. So stand immerhin der Vormittag noch
zur Verfügung, um der Arbeit den letzten Schliff zu geben. Und zur Not
konnte man ja auch noch mitten in der Unterrichtsstunde aufspringen,
zum Computer eilen und rasch das Inhaltsverzeichnis dem eigentlichen
Inhalt anpassen oder das vergessene Deckblatt ausdrucken. Auch die
abschließenden Großexperimente im April/Mai 2008 – Abiturprüfungen
genannt – kamen für manche Kollegiatin, für manchen Kollegiaten, aber
auch für den einen oder anderen Kursleiter – sehr überraschend
und erwiesen sich als große Herausforderung, die noch einmal die
Mobilmachung sämtlicher Kräfte erforderte.
Das gemeinsame
Training und die Vorbereitung in den Monaten zuvor waren jedoch so gut,
dass zumindest dieser Teil unseres Projekts erfolgreich abgeschlossen
werden konnte.
Aber war das Projekt als Ganzes erfolgreich? Ich
glaube, das wäre zu viel verlangt. Was an Wissen und Bildung bei euch
hängen blieb, das wird sich in den nächsten Monaten und Jahren zeigen.
Aber ich bin da ganz zuversichtlich.
Ein anderes Ziel haben
wir mit Sicherheit nicht erreicht: Ich konnte euch nicht oder
wenigstens nicht alle davon überzeugen, dass es sinnvoll ist, wenn man
seine Aufgaben pünktlich erledigt, seine Sachen vollständig abgibt oder
Geldbeträge zum richtigen Zeitpunkt bezahlt. Zumindest hat mir der „AK
Abiball“, aber auch Herr Höfling signalisiert, dass es hier noch einen
gewissen Nachholbedarf gibt.
Für mich war es aber trotzdem ein
insgesamt erfolgreiches Unternehmen, und das nicht erst seit der
letzten Kollegstufenversammlung, seit jenem 3. Juni. Die Spannung an
diesem Tag der Notenbekanntgabe war schier unerträglich. Und doch
gehört dieser Tag für mich sicher zu den schönsten der letzten Monaten,
seit ich die Betreuung dieses Jahrgangs übernommen habe. Ich durfte
eure überraschten Gesichter und eure Reaktionen sehen, als ich die
Folie einblendete, aus der hervorging, dass alle ohne Ausnahme das
Abitur bestanden hatten – und das auf Anhieb, ohne mündliche
Zusatzprüfung! Ja ich muss zugeben, ich habe diesen Augenblick genossen
und ich genieße ihn heute noch, auch wenn ich vielleicht nur einen ganz
kleinen Verdienst daran habe.
Dieses, mein erstes
Kollegstufen-Projekt ist nun – fast – abgeschlossen. In den letzten
Wochen wurde ich immer wieder gefragt: „Herr Gnandt, was machen Sie
jetzt eigentlich die ganze Zeit, wenn Sie keine Absenzen mehr
kontrollieren müssen?“. Schade, muss ich dazu sagen. Schade, dass sich
in eurem Bewusstsein von den vielen Tätigkeiten eines
Kollegstufenbetreuers nur diese eine – leider sehr lästige – Aufgabe
festgesetzt hat.
Es gab und es gibt immer noch reichlich zu
tun. So mussten die Abschlussberichte, also eure Abiturzeugnisse,
erstellt und mehr oder weniger sinnvolle Statistiken für die
Projektüberwachungsstelle (das so genannte Kultusministerium)
angefertigt werden. Zudem sollte ich ja auch noch reihenweise den
fehlenden Unterlagen, Schlüsseln oder Büchern hinterher laufen, die ihr
noch nicht abgegeben hattet.
Zu guter Letzt: Zwar ist heute der
Abschluss für den Abiturjahrgang 2008. Aber das nächste Projekt, der
Jahrgang 2008/2010 befindet sich schon längst in der Planungsphase und
ist mit fast 150 Teilnehmern noch viel umfangreicher!
Euch,
liebe Abiturientinnen und Abiturienten wünsche ich, dass ihr Erfolg
habt bei dem, was ihr euch für eure Zukunft vorgenommen habt. Uns allen
aber wünsche ich, dass ihr trotz aller Meinungsverschiedenheiten und
Probleme, die es sicher hin und wieder gab, zumindest später einmal –
im Rückblick – die Zeit am „Dalberg“ als eine schöne, als eine
fruchtbare Zeit sehen könnt! Und das hoffentlich nicht nur wegen der
wenigen Episoden, die ich gerade geschildert habe.
Verehrte An- und sehr bald schon Abwesende: Auf Wiedersehen in der Dalberg-Schulfamilie der Ehemaligen! Christoph Gnandt